Tagatyja - ein Fluss erschafft sich selbst
Rio Tagatyja - Unterlauf (Foto: H. Doppermann)
Text: Dirk-Peter Gärtner, Concepción/Paraguay
Fotos: Tomasz Schramm, Michael Böttner, Hannes Doppermann
Im Nordosten Paraguays gibt es einige, auch aus aquaristischer Sicht, sehr interessante Klarwasserflüsse. Einer von ihnen ist der Rio Tagatyja, der nördlich der Stadt Concepción den Nationalpark „Serranias de San Luis“ durchquert und dann in den mächtigen Rio Paraguay mündet.
Er führt klares Wasser, ist reich an Fischen und Wasserpflanzen und daher sehr attraktiv für Aquarianer, die Wert darauf legen, die natürlichen Biotope von Zierfischen einmal mit eigenen Augen zu sehen und zu erleben.
Neben Großsalmlern wie Brycon hilarii und Salminus brasiliensis kommen in seinem stark strukturierten Flussbett auch diverse Buntbarscharten (Cichlasoma dimerus, Crenicichla spec.), Welse und – natürlich – sehr viele kleine Salmler vor.
Hyphessobrycon eques, der Blutsalmler und Aphyocharax anisitsi, der Rotflossensalmler, seien hier nur stellvertretend für die zahlreichen Salmlerarten genannt.
Nun, derartige Flüsse gibt es in Südamerika viele, aber dennoch ist der Tagatyja etwas Besonderes! Jeder Fluss - so er sich selbst überlassen bleibt - gestaltet sein Flussbett nach den jeweiligen geographischen Erfordernissen selbst. Flüsse schneiden oft tiefe Täler in die sie umgebende Landschaft.
Beim Rio Tagatyja hingegen, ist genau das Gegenteil der Fall – er wächst aus seiner Umgebung heraus! Er bildet in seinem Mittel- und Unterlauf zahlreiche, oft nur wenige hundert Meter voneinander entfernt liegende Lagunen. In den meisten Fällen sind diese Lagunen voneinander durch kleine Wasserfälle getrennt. So ergibt sich, über die gesamte Strecke seines Mittel- und Unterlaufs gesehen, ein terrassenförmiger Verlauf, der zum Teil beträchtliche Höhendifferenzen aufweist.
Salmler im Rio Tagatyja (Foto: M. Böttner)
Rio Tagatyja - Wasserfall (Foto: T. Schramm)
Alle bekannten Wasserfälle der Welt haben zwei Faktoren gemeinsam: Sie bestehen aus festem Untergrundmaterial (Stein, Fels) und wandern, hervorgerufen durch die über Jahrhunderte auf sie einwirkende Erosion, flussaufwärts. Hier finden wir eine weitere Anomalie des Tagatyja: Seine Wasserfälle wandern in die entgegen gesetzte Richtung, also flussabwärts! Beide Anomalien geben zunächst Rätsel auf, haben aber die gleiche Ursache - Kalk, oder genauer: Calciumhydrogencarbonat!
Wenn wir die im Folgenden kurz beschriebenen Prozesse verstehen wollen, ist ein kleiner Exkurs in die Chemie leider unumgänglich. Der Bodengrund des Tagatyja-Gebietes besteht aus Kalkgesteinen und diese wiederum enthalten Calciumcarbonat, welches zunächst in Wasser nur schwer löslich ist. Dies ändert sich aber schlagartig bei Anwesenheit von Kohlenstoffdioxid! Das ist schon in der Luft enthalten, kann aber auch durch biochemische Prozesse verstärkt lokal gebildet werden.
Aus Calciumcarbonat wird dadurch Calciumhydrogencarbonat, welches nun sehr leicht wasserlöslich ist und im Tagatyja in großen Mengen vorkommt. Jetzt sollte man noch wissen: Diese Reaktion ist umkehrbar! Zum Beispiel durch Erhöhung der Wassertemperatur oder des pH-Wertes. Wir sprechen dabei von der so genannten „Kalksättigung“ oder besser – vom „Kalk- Kohlensäure-Gleichgewicht“. Von ihm ist abhängig, ob Wasser kalklösend oder kalkabscheidend ist. Das Wasser des Tagatyja ist kalkabscheidend. Er baut sein Flussbett und seine Wasserfälle selbst - und das geht so: Durch die Strömung des Flusses werden im Laufe der Zeit Wurzeln unmittelbar am Ufer stehender Bäume ausgespült. Dies führt schließlich zum Umstürzen des Baumes - in aller Regel mitten in den Fluss hinein! Durch die Strömung bilden sich an seinen Ästen und Zweigen nun kleine Wasserwirbel, die dafür sorgen, dass an diesen Stellen ein verstärkter Eintrag von Luft erfolgt. Hier beginnt auch die schnelle Besiedelung des Holzes mit Lebensgemeinschaften von Bakterien, Algen und anderen Kleinstlebewesen.
Der Autor mit von Kalk ummanteltem Zweig (Foto: T. Schramm)
Rio Tagatyja – umgestürzter Baum (Foto: T. Schramm)
Und genau hier sind auch zuerst die Auswirkungen der Kalkabscheidungen sichtbar, da diese Lebensgemeinschaften am temporären Ablauf mitwirken. Ihre Stoffwechselvorgänge verändern den lokalen pH-Wert, wodurch Kalk initial ausfällt und sich an der rauen Oberfläche anheften kann – ganz ähnlich wie bei der Bildung von Zahnstein! Übrigens: Auch die Voraussetzungen für das Vorkommen von Süßwasserkorallen wären im Tagatyja gegeben! Wie dem auch sei, im Laufe der Zeit – wir sprechen hier von Jahrzehnten, wenn nicht gar von Jahrhunderten (!) - wird der gesamte Baum von einem „Kalkpanzer“ ummantelt, der immer fester und dicker wird.
Durch die Strömung angetriebenes Material (Holz, Pflanzenteile) sammelt sich an und wird nach und nach ebenfalls von Kalk ummantelt. Der Durchfluss wird immer weiter eingeschränkt und die ständig fortwährende Kalkabscheidung des Wassers sorgt für eine „Verschmelzung“ des einst losen Treibgutes zu einer festen Masse. Auf diese Weise entsteht ein Damm, der einen Rückstau des Wassers und damit einen langsamen, aber stetigen Anstieg des Pegels bewirkt. Das Wasser des Tagatyja ist nun gezwungen, über diesen Damm zu fließen. Ein kleiner Wasserfall wird geboren!
Die Kalkabscheidungen bewirken ein ständiges Wachstum des Dammes in die Höhe und in Fließrichtung des Wassers – der Wasserfall wandert flussabwärts! Besonders deutlich wird diese Entwicklung bei Niedrigwasser. Dann kann man beobachten, dass die im Laufe der Jahre entstandenen Dämme noch von zahlreichen Öffnungen durchsetzt sind, durch die immer noch gewisse Mengen an Wasser fließen können.
Doch auch der Oberlauf des Tagatyja hält einige Überraschungen bereit. Bereits am Anfang dieses Aufsatzes hatte ich davon geschrieben, dass der Fluss aus seiner Umgebung „herauswächst“. Wenn man (trotz des dichten Urwaldes) einen Blick auf die den Tagatyja umgebende Landschaft erhaschen kann, entdeckt man Seltsames: Ringsum Berge, dazwischen ein Tal, aber im Tal gibt es keinen Fluss. Nicht mal einen kleinen Bach! Und doch ist ein Fluss vorhanden – der Tagatyja! Nur fließt dieser nicht – wie zu erwarten wäre – im Tal, sondern parallel zu ihm am Berghang entlang. Das hangseitige Ufer des Tagatyja liegt fast ebenerdig im Wald, während das zum Tal gewandte Ufer bis zu zehn Metern aus dem Wasser steigt, um dann wieder allmählich in Richtung des Tals abzufallen.
Kalkabscheidungen an einem Zweig (Foto: T. Schramm)
Durch Kalkausfällung entstandene Dämme (Foto:T. Schramm)
Gibt es eine Erklärung dafür, dass der Fluss seine Bodenhaftung verloren hat? Wenn dies durch Sedimentationsvorgänge geschehen sein sollte, dürfte es unterhalb des Flusses eigentlich kein Tal mehr geben. Eine mögliche Erklärung wäre laterales Sickerwasser aus dem Berg (durch poröses Kalk-Gestein), welches die Bildung eines Parallelflusses ermöglicht hat. Dann müsste aber im Tal – zumindest nach starken Regenfällen – ein Bach vorhanden sein.
Oder ist die Bildung des Tales ein viel später eingetretenes Ereignis infolge eines Erosionsprozesses durch die Abholzung des Primärwaldes mit anschließender Überweidung? Dies wäre lange nach Entstehung des Tagatyja geschehen, dessen Flussbett durch die Kalkabscheidungen ja absolut "statisch" ist. Das Erosionswasser könnte einen parallelen Weg gefunden haben!
Einige Kilometer weiter flussaufwärts ändert sich das Bild. Nur etwa zwei, drei Meter breit schlängelt sich der Fluss nun durch dichten, geschlossenen Hochwald. Auf dieser Strecke gibt es keinen einzigen, nennenswerten Wasserfall. Doch auch hier fällt sofort auf, dass der Fluss immer einige Zentimeter (an manchen Stellen bis zu einem Meter) über dem ihn umgebenden Waldboden liegt. Ein Blick auf das Ufersubstrat kann das erklären: Die Wurzeln der Bäume, Farne und die riesigen Schachtelhalme schieben sich durstig an den Fluss und in ihn hinein. Sie bilden sogleich wieder einen idealen Träger für die Kalkabscheidungen. Die gleichen Prozesse wie beim Entstehen der Dämme und Wasserfälle kommen (und bleiben) in Gang. Die Wurzeln werden von festen Kalkpanzern überzogen und sterben ab. Über diese Schicht schieben sich die nächsten Wurzeln und der Kreislauf beginnt von vorn. Der Fluss wächst aus dem Wald heraus. Er baut sich seine eigene Uferböschung.
Autor an einer Quelle am Rio Tagatyja (Foto: T. Schramm)
Crenicichla spec. im Rio Tagatyja (Foto: M. Böttner)
Da ich seit vielen Jahren in Paraguay lebe, habe ich den Rio Tagatyja in letzter Zeit sehr oft besucht. Er ist nicht nur einer unserer schönsten Flüsse, sondern zugleich auch einer der interessantesten.
In den Jahren 2013 und 2014 war er Ziel zweier Expeditionen, die von einem Filmteam von „aqua-media.TV“ begleitet wurden. Dabei sind mehrere Filme entstanden, die die phantastische Unterwasserwelt des Rio Tagatyja zeigen und die ich dem interessierten Leser gern empfehlen möchte.
Dirk-Peter Gärtner, im Mai 2014
Hier Film ansehen:
https://www.youtube.com/watch?v=3maXDaFNceY
Kontakt zum Autor:
http://www.paraguay.ch/deutsch-2/wegbeschreibung-kontakt/